Ende August 2016: Auszug aus unserem Tagebuch
«Wir hatten uns nun mit Pascaline verabredet. Sie ist Lehrerin an der kath. Schule und wir wollten gemeinsam mit ihr nach einem Mädchen namens Praises sehen, welchem wir das Schulgeld bezahlen. Ich hatte sie noch nie zu Hause besucht und wollte mir ein Bild davon machen, wie sie lebt. Praises lebt bei einer Cousine von Pascaline.
Um 15 Uhr erreichten wir die Hütte, in welcher Praises lebt. Ich staunte, wie weit sie zu Fuss zur Schule gehen muss. Von einer der Strassen entfernt, wo man noch mit dem Auto hinkommt, ging es zu Fuss weiter durch enge Gässchen und zwischen Häusern hindurch. In einer einfachen Unterkunft im Hinterhof begrüssten wir ihre Tante, das Mädchen und weitere Kleinkinder. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass ich Hausbesuch tat, war ich jedes Mal überrascht, dass man einfach kommt und sich in die Hütte setzt. Und sich dann nach und nach schlau macht, wer wer ist. Ohne zu warten, dass die Familie ins Haus bittet. Auf einfachstem Erdboden standen einige kleine Holzhocker und in der Mitte des Raumes fand ich die Küche (Kochstelle) am Boden vor. Ein offenes Feuer und einige Steine mit Töpfen darum herum.
Die Tante begann aus dem Leben von Praises zu erzählen. Mittlerweile besucht sie die 3. Klasse. In der Schule war sie sehr gut und hatte als Drittbeste abgeschlossen! Praises wohnt bei Tante Delphine Luma (Ma Nyong), weil ihre eigene Mutter (die Schwester der Tante) «mad» ist. Eigentlich hat sie Praises nur geboren und nicht mehr. Sie hat sich nie um sie gekümmert und ist auch nicht in der Region. Sie geht eher der «Arbeit» einer Prostituierten nach. Praises hat 4 jüngere Geschwister, die aus der gleichen Situation entstanden sind. Die Väter sind unbekannt. Praises verstand ihre Situation sehr wohl, denn plötzlich begann sie zu weinen. Wir trösteten sie und erkundigten uns weiter nach der aktuellen Situation. Nur so konnte ich verstehen, was passiert war und wie wir am besten helfen können. Das Mädchen zeigte mir, auf welcher harten Pritsche und in welch' kleinen Räumchen sie mit ihrer Cousine schläft. Das Bett besteht aus Bambusholz und hat nur eine Decke darüber. Auf dem Bett erledigt sie auch Hausaufgaben. Alles ist eng, dunkel und schmutzig. Im selben Raum schläft auch die Tante und deren 4 Kinder. Für die ganze Hütte hat es eine einzige Glühbirne, um nachts etwas Licht zu haben. Jeden Monat bezahlt die Tante 1000 CFA (1.65 CHF) dafür. Praises hilft mit, den Compound zu putzen und kann Essen erwärmen. Auch ein Feuer in der Küche zum Kochen zu entfachen ist für sie kein Problem. Die Küche/Wohnraum hat eine Grösse von zirka 4 x 4 Metern, das nebenan liegende Schlafzimmer ist noch kleiner.
Für diesen Tag standen eine Hand voll winziger getrockneter Fische bereit zum Essen. Dies musste für die Tante und 6 Kinder ausreichen. Eines der Kleinkinder röchelte. Das sei schon seit Geburt so, teilte uns die Tante mit. Sie habe es im Spital untersuchen lassen und wisse nicht, was man tun könnte. Die Armut in dieser Familie war deutlich grösser als ich bisher angenommen und mir hatte vorstellen können… Überall gab es Problemfälle, doch diese Familie lebt wirklich unter enorm schwierigen Bedingungen und einem unendlichen Ausmass an Hilfsbedürftigkeit.
Es war schön, ausreichend Zeit zu haben, um sich mit allem zu befassen, um es besser verstehen zu können. Denn Kinder, die ihr Schulgeld nicht bezahlen können gibt es hier an jeder Ecke. Erst wenn man sich genauer damit befasst, kann man verstehen, wie schwierig es wirklich ist. Delphine erzählte von ihren eigenen vier Kindern. Die älteste Tochter ist 22 Jahre alt und arbeitet als Haushaltshilfe in Douala. Die zweitälteste Tochter namens Doris ist 16 Jahre alt und besucht trotzdem erst die 3. Primarschule. Das Geld hatte nicht ausgereicht, um sie von Kindesbeinen an in die Schule schicken zu können. Diese beiden Kinder waren von ihrem ersten Partner. Von einem zweiten Partner hat sie den 10 Jahre alten Celestine Feh, er besucht die 4. Klasse. Womit man sieht, wie unwichtig hier eine Ausbildung von Mädchen angesehen wird… Von einem weiteren Partner hat sie den 4 Jahre alten Evaristus, welcher noch nicht eingeschult worden ist. Sein Vater ist verstorben. Ich fragte die Mutter, von was sie hier überlebt. Sie verkauft etwas Salz auf dem Markt. Ihre Eltern sind beide verstorben. Der Vater vor 3 Monaten, die Mutter erst vor knapp 2 Wochen. Mit keinem der Väter der Kinder lebt sie zusammen und keiner sorgt für sie. Der Zustand war wirklich schlimm.
Sie erzählte, ihre Mutter sei verstorben, weil es in der Regenzeit überall in die Hütte tropft. In der Tat stellten wir fest, dass das Blechdach über und über mit Löchern versehen ist. Nun verstand ich auch, warum überall Töpfe auf den Betten aufgestellt waren. Das Feuer schützen sie vom Regen mit einem grossen Topf, den sie darüber stülpen. Die Grossmutter wäre noch am Leben, wäre das Dach nicht in einem solchen schlechten Zustand.
Ich musste nun dringend zur Toilette. Eine gute Gelegenheit, nach diesem Örtchen zu sehen. Die Tante führte mich hinters Haus und zeigte auf den Boden. Schutz wie eine Bastmatte oder einen Zaun für ein wenig Privatsphäre gab es keine. Glücklicherweise war gerade niemand zu sehen, als ich mich im Gebüsch erleichterte. Die Häuser waren eng aneinander und der Nachbar umgehend in sichtbarer Nähe. Hier waschen sie sich auch. Es gibt weder einen Zaun, der vor Blicken schützt, noch einen Wasserhahn. Ein Lavabo schon gar nicht. Ihr Wasser zum Trinken holen sie sich zu Fuss aus dem Fluss. In der Trockenzeit heisst das 3 Kilometer weit gehen. In der Regenzeit wie jetzt 1 Kilometer. Das Wasser zum Waschen von Körper oder Kochutensilien holen sie 200 Meter weit entfernt. In einem schon zuvor eher schmutzigen Wässerchen wusch ich nach meinem Geschäft die Hände vor der Hütte. Die Tante erzählte, für das grosse Geschäft gehen sie zu Fuss in ein Gehege, wo Schweine hausen. Diese würden den Kot später fressen… Und diese Familie ist nicht die einzige, die sich dort erleichtern muss. Anscheinend geht so ziemlich das ganze Quartier namens Jam Jam dorthin. Ihr unmittelbarer Nachbar besitzt eine Toilette, doch er erlaubt es der Familie nicht, sie zu benützen.
Die enorme Armut dieser Familie war wirklich kaum mehr zu übertreffen. Sie reihten sich ein in weitere Schicksale, die wir bereits gehört oder gesehen hatten. Wir entschieden sofort, ihnen bei der Renovation des Daches zu helfen. Die Tante entschuldigte sich, dass noch kein Essen für uns bereit sei. Sie würde sehr gerne für uns kochen! Auch hier besass man nichts und wollte trotzdem teilen… Wir lehnten dankend ab und ich sagte ihr, ich sei viel sowieso glücklicher, wenn sie damit ihre Kinder verpflegt.»